Aerodynamik für Veranstaltungstechniker

Abbildung 1

Der schwere Bühnenunfall in Indianapolis am Wochenende hat viele Veranstaltungstechniker ins Grübeln gebracht, unsere Technikerforen sind voll von Thesen. Sehr schön sind immer wieder die Stimmen derjenigen, die es ja schon immer gewußt haben. Markus Sorger hat in seinem tour-blog einige Grundlagen zu Windlasten zusammengefasst, die EventElevator hier ebenfalls präsentiert.

So stellen wir uns ja eine rundum mit Planen versehene Bühne bei Wind vor (Abbildung 1): von links kommt der Wind, der rote Anteil dengelt gegen die Bühne, der grüne fliegt einfach drüber weg und der blaue Pfeil symbolisiert die daraus entstehende Kraft; die Bühne wird nach rechts gedrückt. So weit, so einfach.

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Abbildung 2

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In den Diskussionen kommen immer die Begriffe “Windverband”, “Verspannung”, oder “Bracing” vor. Die sollte ich auch nochmal eben erklären. Wenn ich bei einem Quadrat kräftig oben gegen die Ecke drücke, dann wird sich dieses Quadrat mit zunehmender Kraft irgendwann in Richtung Salmiakpastille verbiegen (Abbildung 2). Wäre das Quadrat eine Bühne, dann würde sie einfach umkippen. Man kennt das ja auch, wenn man ein Regal oder einen Schrank aufbaut: solange keine Rückwand drin ist, ist diese Konstruktion ganz schön labil.

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Abbildung 3Wenn man jetzt das Quadrat verspannt, da also ein Kreuz reinsetzt (Abbildung 3), dann kann sich das Quadrat nicht mehr so einfach verbiegen, weil nämlich die dagegendrückende Kraft innerhalb der Verspannung abgeleitet wird. Auch das kennt man von zuhause: beim billigen Regal aus dem Sonderangebot schraubt man hinten ein Kreuz dran und schon steht das Teil. Genau sowas machen wir bei Bühnen (hoffentlich) auch: im Dach, in der Rückwand und in den beiden Seiten werden solche Verspannungen eingesetzt und die machen die Bühne erst stabil. Nur bei der Bühnenvorderseite würde das ja doof aussehen und darum läßt man sie dort weg. Allerdings gewinnt man im Sturmfall ganz erheblich an Stabilität, wenn man dann dort solch eine Verspannung auch anbringt. Darum ist es sinnvoll, sie schonmal vorzubereiten, damit es dann im Ernstfall ganz schnell geht.

Bei genauer Betrachtung der Wirkungsweise eines Kreuzes versteht man auch recht schnell, daß die an dieser Stelle oft und gern eingesetzten Fünf-Tonnen-Spanngurte vielleicht doch keine sooooo gute Idee sind, wenn sie schon ein wenig verschlissen sind. Richtige Stahlspanner, -seile, -schäkel sind da viel vertrauenserweckender. Denn wenn so eine Strecke reißt, dann ist es auch das Ende der Bühne.

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Abbildung 4

 

Nun wird immer wieder gesagt, daß man im Sturmfalle einfach die seitlichen Planen entfernen solle, um die Windlast zu verringern und die Bühne vor dem Umkippen zu bewahren (Abbildung 4). Erstmal sieht das ja auch logisch aus: der Wind kann unten einfach durchpfeifen (den Restluftwiderstand der Traversenkonstruktion und der PA vernachlässigen wir hier mal eben), nur noch oben beim Dach ist ein luftundurchlässiger Bereich, also entstehen da viel weniger Kräfte, die die Bühne umschmeißen können. Das ist allerdings wie immer im Leben nicht ganz so einfach.

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Abbildung 5Wenn wir mal eben nur das Dach anschauen, dann haben wir da ganz plötzlich das Tragflächenprinzip (oder das Prinzip, mit dem sich Segler “am Wind”, also fast gegen den Wind, bewegen), mit dem es auch eine Antonow 225 schafft, mit insgesamt 600 Tonnen Kampfgewicht abzuheben. Ooops.

Im Detail: ich habe links neben das Bühnendach mal zwei Luftmoleküle gemalt, die genau übereinanderstehen (Abbildung 5). Das untere Molekül fliegt unter dem Dach durch, das obere schafft es leider nicht und muß den langen Weg über den Giebel nehmen. Dabei muß es richtig Gas geben, denn es muß trotz der längeren Strecke zum selben Zeitpunkt wieder am Ende des Daches sein, wie das Molekül, das den kürzeren, unteren Weg genommen hat. Dadurch entsteht ein Sog, der das Dach nach oben zieht. Das ist keine abstrakte Kraft, die man mal eben vernachlässigen kann, sondern eine sehr reale (Abbildung 6).

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Abbildung 6So sieht es also dann auf die ganze Bühne übertragen aus: bei entfernter Verplanung entstehen zwei Kräfte, die die Bühne im Zweifelsfall nach rechts wegfliegen läßt. Wie die Bühne konkret reagiert hängt vom einzelnen Bühnentyp ab. Ist das Dach fest mit den Towern verbolzt und hängen unten große Tanks dran, dann mag das so halten. Ist das Dach nur mit Stahlseilen gegen herunterfallen gesichert, dann kann und wird sich das Dach richtig bewegen und bringt eine schicke Dynamik ins Spiel, die die Situation zusätzlich verschärft.

In diesem Zusammenhang laßt uns doch auch noch mal eben über die PA sprechen. Oft wird ja gefordert, die PA herauszunehmen. Ich sehe das ein wenig differenzierter. Wenn die PA wild im Wind schaukelt, dann ist sie durch die Dynamik eine zusätzliche Gefahr, ja. Ist sie aber sauber verspannt und hängt ruhig im Dach, dann ist sie ein zusätzliches Gewicht, das das Dach am Abheben hindert. Das kann nicht nur schlecht sein.

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Abbildung 7Zu guter Letzt wird gern gefordert, das Dach so schnell wie möglich abzulassen, um so die Windangriffsfläche zu verringern und den Schwerpunkt der Windangriffsfläche schön weit herunterzubekommen (Abbildung 7). Wenn man das rechtzeitig macht und das Dach unten auch nochmal herunterspannt, daß es nicht auffliegen kann, dann ist das eine tolle Lösung. Allerdings liegt die Betonung hier sehr deutlich auf rechtzeitig. Mitten im Sturm auf die Idee zu kommen, mal eben das Dach herunterzufahren, ist glatter Selbstmord. Sobald ich das Dach nach unten fahre, sind die Verspannungen nicht mehr gespannt, also unwirksam. Ich mache damit die Bühne zu einer absolut windempfindlichen Konstruktion, die ganz einfach umfallen kann. Bei den meisten Bühnen muß ich die Verplanung vorher lösen; die kann ich im Wind aber in der Regel gar nicht mehr festhalten, sie wird mir also quer über den Platz segeln. Zum Herunterlassen muß ich die Verbolzung lösen; nun habe ich ja schon die Planen davonfliegen lassen, ich habe also beste Segeleigenschaften des Daches. Wenn ich die Bolzen unter Starkwind löse, dann wird mir das Dach nach oben wegfliegen. Also: das Ablassen des Daches bitte niemals unter Starkwind versuchen.

Beim Thema Wegfliegen der Verplanung fällt mir noch die folgende Geschichte ein: ein Bühnenbauer erzählte mir mal ganz stolz, daß er den Abstand der Gummistrapsen für seine Gaze so berechnet habe, daß bevor die Bühne umfalle, die Verstrapsung der Gaze reißen würde und somit der Druck vermindert. Das ist natürlich eine schlaue Idee. Allerdings möchte ich nicht auf dem Platz sein, wenn mal plötzlich so eine 100m² große Plane aus der Bühne platzt und quer durch das Publikum gefetzt wird.

So. Jetzt ist die Verwirrung wahrscheinlich groß. Was soll ich denn jetzt nun mit meiner Bühne machen, wenn ein Sturm vor der Bühne steht ?  Das kann ich Euch auch nicht sagen und das kann keiner. Weil es nämlich keine allgemeingültige Antwort gibt. Je nach Dachform ist es ein großer Unterschied, ob der Wind von der Seite oder von vorn/hinten kommt. Je nach Konstruktion geht es langsamer oder schneller, ein Dach abzulassen. Beispielsweise. Die beste Handlungsweise hängt von vielen Faktoren ab, die man kaum pauschalisieren kann.

Was man machen muß: sich im Vorfeld genaue Gedanken darüber machen, wie ich in dieser konkreten Situation mit diesem konkreten Material bei Starkwind reagiere. Alle notwendigen Arbeitsschritte kennen und vorbereiten (es hilft nicht, wenn der Lehrling noch mal eben mit dem Sprinter ins Lager fahren muß, um das Material für die Verspannung an der Bühnenvorderseite zu holen). Ich muß sauber und stabil mit geprüftem Material bauen und nicht mit deutlich ablegereifem Material und leicht angeschöntem Baubuch durch die Lande fahren. Und ich muß den Mut und die Durchsetzungskraft haben, im Zweifelsfall die Bühne zu sperren und das Publikum nach Hause zu schicken. Rechtzeitig.

Der letzte Punkt ist wahrscheinlich der schwierigste, weil es da ja dann immer noch die “Et hätt ja noch immer jootjejange” – Veranstalter und Cheffen gibt.

Und nicht umsonst fallen Bühnen ja rechtlich auch unter die “Fliegenden Bauten”………

Autor: Markus Sorger

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