Everything you know is wrong – Stephan Aue bei U2

© Samy Mosher „…auch wenn ich klar der Meinung bin, dass sie seit vielen Jahren keinen richtig guten Song, oder gar ein wirklich wichtiges Album gemacht haben, halte ich ihre Fahne hoch und bin der Überzeugung, dass sie eine der wichtigsten und innovativsten Livebands aller Zeiten sind…“

U2 auf iNNOCENCE + eXPERIENCE Tour – wenn eine der größten und prägendsten Bands der Welt auf Tour geht, die immer wieder mit visionären Bühnendesigns aufwartet, ist die Spannung natürlich groß, ob sie auch dieses Mal wieder die selbst gelegte Messlatte erreichen. Licht- und Bühnendesigner Stephan Aue wurde 1993 während der „Zooropa“-Tour von der Band „abgeholt“ und schildert seine Eindrücke von der aktuellen Produktion, die er in Berlin gesehen hat.

Fanboy

„U2, das muss ich eingangs kurz erwähnen, begleiten mich quasi schon mein ganzes Leben und auch wenn ich der Meinung bin, dass sie seit vielen Jahren keinen richtig guten Song oder gar ein wirklich wichtiges Album gemacht haben, halte ich ihre Fahne hoch und bin der festen Überzeugung, dass sie eine der wichtigsten und innovativsten Livebands aller Zeiten sind und das auch immer wieder unter Beweis gestellt haben.

1993 in Bremen im Weserstadion habe ich die Band das erste mal live gesehen – alle Versuche, das Erlebnis in Worte zu fassen, werden stets in Superlativen verfasst werden, ich war nie zuvor und auch nur selten danach so beeindruckt von einer Show wie von dieser.

Ich hatte gerade meine erste Arenaerfahrung gemacht und mir Depeche Mode auf ihrer „Devotional“-Tour in Hannover angesehen und war sofort Fan von dieser „large scale“ Live-Erfahrung. Als notorischem Hasser von grossen Menschenaufläufen war mir im Vorfeld der Gedanke, mit 20.000 anderen Menschen ein Konzert zu sehen, sogar unangenehm.

Aber bei dieser Show hat es mich sofort gepackt und ich fügte diese Sorte Event meinen geliebten Clubshows als betrachtenswerte Aufführung von Livemusik hinzu.

Schwarzmarktpreise für die Verpeilten

Von den Leuten, mit denen ich damals bei Depeche Mode war, wollten einige in der darauf folgenden Woche zu U2 nach Bremen. Ob ich mitkommen wolle, eine Karte würde man sicher noch bekommen, das sei immer so, wussten die routinierten Stadionshow-Gucker zu berichten. Ja, verdammt – ich will nicht nur – ich glaube sogar, ich muss dahin.

Für 65 Mark bekam man ein Ticket, „Schwarzmarktpreise – da musst Du durch, wenn Du es verpeilst, dir früh genug im Vorverkauf eins zu kaufen.“ Ich muss fast lachen. Ich glaube heute kann ich für das Geld nicht mal ins Kino gehen, wenn ich mit meinem Sohn und meinem Patenkind einen Film ihrer Wahl sehen will, und der evtl. noch Überlänge hat und 3D ist und wir noch Popcorn kaufen.

Die nackte Bühne spüren, sehen, hören

Damals erschien es mir recht teuer, das kann man als Randanekdote auch gut so stehen lassen. Im Stadion bemerkte man sofort, dass es Unterschiede gab zu der Show, die ich in der Vorwoche sehen durfte. Alles wirkte viel größer. Die Bühne war völlig unkonventionell und völlig irre. Gefühlte 2.000 Shows später kann ich gut erklären, was dort alles anders war. Aber damals hat es mich so gefesselt, wie futuristisch das alles aussah und obwohl noch lange keine Show in Sicht war, war es schon jetzt, die nackte Bühne allein, so viel grösser und so anders – das hat man gespürt, gesehen, gehört.

Es gab keine Handys, kein youtube oder irgendwas – also konnte man keine Bilder der Bühne oder der Show gesehen haben. Man war der Wirkung dieser Bühne ausgesetzt und das war überwältigend.

Bei Beginn der Show wurde das visuelle Feuerwerk abgefeuert, das so anders war als das von Depeche Mode, dass es nur so krachte. Die Tour war „Zooropa“ zum Album „Achtung Baby“ und man wurde damals mit Texteinblendungen in hoher Frequenz enorm gefordert: Allein am Ende des ersten Songs stand auf gefühlten 100 Screens die Message „everything you know is wrong“ und das im Wechsel mit „Watch more TV“.

Das hat mich visuell so geprägt, dass ich heute noch eine Gänsehaut bekomme und für die Zeit war diese Überfrachtung von Bildern und die daraus entstehende Ästhetik sehr innovativ und das war einer der Abende in meinem Leben, die mich sehr berührt haben. Die folgenden 2,5 Stunden wären sicher alleine ein ganzes Kapitel in dem Buch, das ich immer mal schreiben wollte und wahrscheinlich niemals schreiben werde.

Mephisto ruft ein Taxi vor 60.000 Zuschauern

Zur Zugabe kam Bono als Mephisto auf die Bühne und wählte auf einem Wählscheibentelefon eine Taxinummer in Bremen und bat die 60.000 Zuschauer, sehr still zu sein – er müsste jetzt mal ein Taxi rufen. Das war so groß, ich kann es nicht beschreiben.

Danach haben sie „With or without you“ gespielt und fast 60.000 Menschen (also quasi alle außer mir) haben gesungen. Als ich auf dem Weg nach draußen war, hatte ich das Gefühl, Zeuge von etwas wirklich großem geworden zu sein. Vor allen Dingen war ich euphorisiert und glücklich und heute – da ich selber auch Shows designen darf und Menschen euphorisiere – hoffe ich, dass wenigstens ein paar nach den Shows nach Hause gehen und sich gut fühlen und ich meinen Teil dazu beitragen darf.

u2 innocence 5„Leider ist das Netz voll von Handyvideos und wenn man möchte, kann man sich quasi die ganze Show anschauen. Ich finde es schade, dass so viele Menschen während einer Show lieber auf ein Display schauen als auf eine Bühne, aber das kann man wohl nicht mehr ändern.“
(Klicken zum vergrössern) © Samy Mosher

Ich habe danach jede Tour der Band gesehen. Ich war in ihrem wahnsinnig beeindruckenden 3D-Film. Ich glaube dass U2 – was das betrifft – nie an Relevanz verloren haben. Ich war natürlich auch bei Pink Floyd, habe natürlich mehrmals Peter Gabriel gesehen und es gab Shows von Nine Inch Nails, Radiohead und Muse, die mich weggeblasen haben. Aber seinerzeit in Bremen lief die Mutter aller Shows vor meinem Augen ab und ich habe sie als solche wahrgenommen. Es hat mich berührt, beeindruckt, unterhalten und geprägt.

Raus sein, bevor das Publikum reinkommt

Ich wähle also eine Show ihrer aktuellen Tournee aus und beschließe hinzugehen. Ich gucke kaum noch Shows, ich besuche gerne Menschen auf Produktionen, versuche aber stets, wieder weg zu sein, bevor das Publikum reinkommt – das mit dem Unwohlfühlen in großen Menschenansammlungen ist nie besser geworden. Leider ist es für mich immer sehr schwer, ein halbes Jahr vor einer Show zu sagen, dass ich dort hingehe. Mein Terminkalender macht mir oft einen Strich durch die Rechnung. Ich wähle den Dienstag, die letzte von vier Shows in Berlin und kaufe eine Karte bei ebay für 150 Euro.

Es sind noch knapp 60 Minuten bis zur Show. Ich vertreibe mir die Zeit damit, mir die „Bühne“ anzuschauen und erkenne viele Elemente aus älteren Shows. So kommt mir die Kopfbühne sehr bekannt vor und ich stelle fest, dass sie in einer ähnlichen Anordnung wie bei der „Vertigo“-Tour ein Set aus 4lite Blindern und Atomic Strobes mit Wechslern haben. Das ist für mich eigentlich eher untypisch, ich schaue nie danach, was andere für Material nutzen, mich interessiert eher die Wirkung, die sie damit erreichen, selten womit sie es tun. Aber ich habe Zeit, bin eh hier und gucke mich ja nur um.

Alleine die Einlassmusik wäre das Geld wert gewesen, ich höre so viele Songs, die den Soundtrack meines Lebens bilden – genial. Es gibt keine Vorband, ich habe einen Platz im seitlichen Unterrang. Von der Kopfbühne, die an der klassischen Position steht, verläuft ein etwa 30 Meter langer Laufsteg nach vorn und teilt das Publikum in zwei Teile. Am Ende des Laufstegs ist eine runde Bühne zu finden. Konzeptionell ist das ganze schon auch im Tourlogo, im Schriftzug und im Design so angelegt, dass es sich dort wiederfindet.

u2 innocence 3© U2

Über dem Laufsteg eine riesige LED-Wand aus transparenten LED-Modulen. Man erahnt, dass diese Wand in beiden Richtungen mit Content bespielt wird und man sieht auch im Ansatz, dass es nicht ihr alleiniger Zweck ist, eine LED-Wand zu sein, sondern dass zwischen den beiden Flächen noch Szenenflächen und Movinglights verbaut sind, Blinder und Strobes.

Ich interessiere mich nur bedingt dafür, was dort zum Einsatz kommt, aber ich habe mich ein wenig schlau gemacht und da diese Rezension ja auf einem Fachportal erscheinen wird, liefere ich mal ein paar dröge Fakten in Form einer Equipmentliste.

Es hängt eine ungefähr fußballgroße LED-Glühbirne von der Decke über der Kopfbühne. Diese ist schon während der Einlass-Situation in Betrieb. So langsam werden die Trussfollowfahrer ins Rigg befördert. Das dauert bei insgesamt 16 Follows auch ein Sekündchen.

u2 innocence 4„Showstart…Licht wird komplett mit den Front- und Spitzenfollows gemacht, ganz klassisch kaltweiss in der Spitze und Warmweiss in der Front.“
(Klicken zum vergrößern) © Sam Jones

Showstart – während eines langen Intros betritt die Band die Bühne. Bono geht von vornherein durch den Innenraum und gesellt sich nach einem Umweg über die runde Bühne und den Laufsteg zu seinen Kollegen. Mit einem reduzierten Setup aus ein paar Movinglights am Boden spielt die Band ein paar Songs auf der Bühne. Es geht um die Band, es gibt keine grossen Effekte und Licht wird komplett mit den Front- und Spitzenfollows gemacht – ganz klassisch kaltweiß in der Spitze und warmweiß in der Front. Sehr wirkungsvoll, sehr reduziert.

Es gibt einen Satz Washlights, mit dem man die gesamte Audience hell machen kann, um den echten Joker der 360-Grad Bühne auszuspielen. Das Publikum kann zu jeder Zeit als Backdrop für die Künstler dienen.

Neue und alte Songs werden in einer wirklich interessanten Setlist interessant miteinander vermischt und die Band ist sehr bemüht, in alle Richtungen zu spielen, die ihnen ihre Bühne bietet und ich glaube eben, dass niemand das so gut beherrscht wie U2.

Insgesamt wurde auch die LED-Wand inzwischen Stück für Stück ins Bild genommen und entfaltet langsam ihre Kraft. Über ausgeklappte Treppen ist es der Band möglich, den Bereich zwischen den beiden Wänden zu entern und als Szenefläche zu nutzen. Bei den folgenden Songs benutzen sie die Performance, die eben durch die Transparenz der LED-Wand entsteht und den Mix, der das Spiel von realen Personen mit einer LED-Wand verbindet, mit so viel Geschick und so schlauen Überlegungen, dass es mir wirklich bisweilen nicht gelang, mich der Wirkung dieser Illusion zu entziehen.

u2 innocence 2„Es gibt einen Satz Washlights, mit dem man die gesamte Audience hell machen kann, um den echten Joker der 360-Grad Bühne auszuspielen.“
(Klicken zum vergrössern) © Samy Mosher

Manchmal war die Interaktion mit dem Content schon fast zu viel, aber eben immer passend zum Thema, immer sehr bewusst eingesetzt und eben immer die Band im Fokus und vor allem die Songs. Es wäre besser, nicht zu viel darüber zu wissen, falls man doch noch auf die Idee kommt, sich die Show im nächsten Jahr anzugucken, wenn sie nochmal in Deutschland halt macht.

Die Wand ist natürlich fahrbar und an einem bestimmten Punkt in der Show wird sie direkt auf dem Laufsteg abgesetzt und die Band verschwindet beim Song „invisible“ komplett in der Wand und es wird die Berliner Mauer abgebildet. In diesem Moment muss man sich die Frage stellen, ob das noch eine Rockshow ist und ob es okay ist, ist die Band auch mal gar nicht zu sehen.

Meine Meinung ist: Ja. Weil es wohlüberlegt und thematisch sehr stimmig ist, darf es gemacht werden. In der ganzen Show finden sich visuelle Zitate aus den anderen Shows und U2 wären nicht U2, wenn sie diese Plattform nicht nutzen würden, um auf Mißstände hinzuweisen und Impulse zu setzen für Veränderung.

u2 innocence 7„In diesem Moment muss man sich die Frage stellen, ob das noch eine Rockshow ist und ob es okay ist, ist die Band auch mal gar nicht zu sehen.“
(Klicken zum Vergrössern) © samy mosher

Ich bin hingegangen, um zu sehen ob sie eventuell müde werden, aber ich bin wie immer nicht enttäuscht worden. Sie haben mich wieder so tief berührt, wie sie es schon immer getan haben. Sie nutzen nach wie vor die technischen Möglichkeiten wie keine andere Band. Sie zitieren sich visuell ständig selbst und haben nichts an Kraft oder Relevanz verloren. Sie sind die größte Rockband auf dem Planeten und ich kenne genug Menschen, die sie nicht gut finden und ich verstehe die meisten Gründe dafür auch wirklich gut. Aber mich haben sie 1993 „abgeholt“, wie man heute neudeutsch sagt und sie schaffen es nicht, mich wieder loszuwerden.

Sie sind ein Team und sie haben wirklich gute Ideen. Das Ergebnis kann sich wirklich sehen lassen, aber vor allen Dingen ist es hochemotional. Ich habe mit Absicht nur ein paar Clous verraten, falls ihr es Euch noch angucken wollt. Alle die ich kenne und die es gesehen haben, sind wirklich schwer begeistert und ich bin wirklich froh, dass ich da war.

Irgendwann steht auf der 30 Meter breiten LED Wand mein Satz, „Everything you know is wrong“. Ich strecke vor Freude meine Arme in die Luft und mir fällt auf, dass er noch viel wahrer ist als er es damals war.

Danach haben sie „With or without you“ gespielt und fast 16.000 Menschen (also quasi alle außer mir) haben gesungen. Ich habe danach die Halle verlassen und mich gefühlt wie 1993. Leider ist das Netz voll von Handyvideos und wenn man möchte, kann man sich quasi die ganze Show anschauen. Ich finde es schade, dass so viele Menschen während einer Show lieber auf ein Display schauen als auf eine Bühne, aber das kann man wohl nicht mehr ändern.

1993 gab es das alles nicht und ´ne Karte hat 65 Mark auf dem Schwarzmarkt gekostet und außerdem war früher mehr Lametta.

Ich weiss sehr gut, wieviele Leute für das Ergebnis verantwortlich zeichnen und man würde sicher jemanden vergessen, wenn man anfangen würde, sie hier alle zu nennen. Aber stellvertretend muss ich dieser zweifelsohne mutigen Band nochmal sagen, dass sie sich sehr glücklich schätzen können, mit Creative Director Willie Williams jemanden an ihrer Seite zu haben, der ein großer Visionär ist und dessen Arbeit ich sehr schätze.“

Über den Autor:

 Stephan Aue, 46 Jahre alt, Licht- und Bühnendesigner bei AMBION GmbHstephan aue sunrise ave 2014 u2stephan aue auf Tour mit sunrise Avenue, 2013

Nach einer Ausbildung zum Industriekaufmann stellt Stephan im jungen Erwachsenenalter fest, dass es Zeitverschwendung wäre, etwas anderem als seiner Passion, der Musik, nachzugehen. 1993 beschließt er, der „sicheren“ Festanstellung“ den Rücken zu kehren.

Die beharrlich wachsende Klientel in der Live-Entertainment-Branche sowie der stetige Rückgang der Umsätze des Plattenladens, den er mit ein paar Freunden unterhält, führt Aue zu der Entscheidung, sich ausgiebiger dem Touren und den Liveshows zu widmen.

Dort findet er schließlich seine Berufung und arbeitet seitdem mit Leidenschaft in diesem Bereich. Als Vater eines achtjährigen Sohnes hat er allerdings nicht mehr soviel Fernweh und gestaltet seine Arbeit heute so, dass er eben neben der Arbeit auch so viel wie möglich Papa sein kann.